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Der Bettnässer

Russi thematisiert in seinem neuen, einfühlsamen Roman die gesellschaftlichen und psychischen Probleme eines Jungen, dessen Leben von Unsicherheit und Angst geprägt ist.

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Die Sondersiechen

Die Sondersiechen

Ludwig Bechstein

Vor der Stadt Erfurt am Löbertor standen einst ein Steinkreuz und daneben ein Bildstock, um die sich eine schauerliche Sage rankt. Schon der Chronist Zacharias Hogel (1611-1677) hat von die Geschichte, die er ins Jahr 1388 datiert, vermerkt. Bechstein hat sie in seinem Thüringer Sagenbuch aufgegriffen.

 

 

Die Sondersiechen (593)


Der Rat zu Erfurt hatte mit schlimmem Volk seine tausendfache Not, aber er ließ seine Macht fühlen und strafte unnachsichtlich jede Übeltat. Einst war auf der Gleichenschen Burg Ehrenstein ein junger Ritter, der liebte eine Jungfrau aus dem Gefolge der Gräfin von Gleichen und entführte sie mit ihrer Zustimmung. Sie saß hinter ihm auf, und beide erreichten glücklich das Stadttor. Es war aber leider schon abends zehn Uhr, und das Tor wurde nicht aufgetan. Da ritten sie zurück voll Angst und kamen an das Haus der Sondersiechen, dort um Einlass bittend, nachdem der Ritter sein Ross an einen Zaun angebunden hatte.

Es ward ihnen aufgetan, aber die Siechen, lauter Männer, als sie sahen, dass die Maid schön war, warfen sie sich auf den Ritter und erwürgten ihn und büßten an der Jungfrau ihre schändliche Lust so, dass sie starb; dann verscharrten sie beide Leichen. Als aber die Flucht bekannt wurde, jagte vom Schlosse Ehrenstein und von Remde her eine Schar Verfolger nach, kamen auch nach Erfurt und fragten am Tore nach den Flüchtigen. Da sagte der Torwärter: Ja, es ist gestern zur Nacht einer dagewesen, so Einlass begehrt, ich durft' ihm aber nicht auftuen, denn es war zu spät. Da ritten die Verfolger vor das Siechenhaus und fragten draußen gleichfalls nach, aber da hieß es: Zu uns kommt niemand, wir sind die Leprosen und Sondersiechen. Indem so hörte das am Zaun hinterm Haus angebundene Ross, welches die Siechen noch gar nicht gewahr worden, bekannte Stimmen, mocht' auch Hunger haben, und begann laut zu wiehern. Als nun jene das ihnen wohlbekannte Pferd fanden, drangen sie ein in das Haus und umstellten es und sendeten in die Stadt zum Magistrat, und der schickte seine Richter und Schöppen, die forschten und fragten und fanden die grauenvolle Tat und schöpften ihr Urteil.

Darauf umfing ein ehrlich Grab bei Sankt Thomas den Ritter und sein armes Lieb; um das Siechenhaus herum aber wurde Scheitholz gelegt, rundherum, und Stroh und Reisig bis zum Dach, ein mächtiger Haufe, darauf ward es an den vier Ecken mit Feuer angestoßen, dass es mit Mann und Maus, so darinnen waren, zu Asche verbrannte. Hernach ist an des Hauses Statt ein Kreuz von Steinen errichtet worden, an dessen einer Seite ein Ritter, an der andern eine knieende Jungfrau zu sehen war.

 

***
aus Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1930

Vorschaubild: Hjördis Barth

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