Es ist jedes Jahr wieder ein beeindruckender Anblick, wenn sich am 10. November nach Sonnenuntergang der Erfurter Domplatz mit tausenden Lichtern füllt. Aus allen Richtungen kommen nun Scharen mit ihren Laternen zu den Domstufen gepilgert, bis der ganze Platz einem einzigen Lichtermeer gleicht. Wenn dann um Schlag 18.00 Uhr die große mittelalterliche Glocke mit dem schönen Namen „Gloriosa" über allen Köpfen hoch oben im Turm des Domes zu schwingen beginnt und sich ihr dunkler und warmer Ton über der ganzen Altstadt ausbreitet, dann herrscht auf dem Platz eine Atmosphäre, wie sie feierlicher und erhabener kaum sein kann.
Beim Verhall der Glocke beginnt auf den Domstufen die ökumenische Feier, die seit 1972 zumindest für diesen einen Tag im Jahr beide Kirchen miteinander vereint. Der Gottesdienst gilt dem Gedenken an die zwei Martins – dem einen aus Tour, der mit dem Bettler seinen Mantel teilte, und dem anderen aus Eisleben, der im Streit mit dem Papst auf Gott vertraute und nur seinem Gewissen folgte „Ich stehe hier und kann nicht anders."
Am Rande des Laternenmeeres, am nördlichen Ende des Domplatzes, ist der Martinsmarkt aufgebaut. Seit dem Morgen bieten die Händler hier Martinshörnchen, Martinsgänse und Laternen an. Nun hat sich das Treiben beruhigt. Nur vereinzelt der Duft von Glühwein und Bratwurst liegt in der Luft und lockt besonders bei kalten Wind aus Nord den ein oder anderen zu den Marktbuden mit den heißen Getränken.
Nach Abschluss der Feier ziehen die Kinder mit ihren Laternen durch die Stadt. In den Bäckersläden und anderswo singen sie ihre Lieder vom Martin oder von ihrer Laterne und erhalten dafür ein Martinshörnchen oder andere Leckereien. Ähnlich wie andernorts am Tag der Heiligen Drei Könige ziehen sie auch in ihren Wohngebieten von Tür zu Tür.
In den letzten Jahren haben sich jedoch nur wenige Martinssänger an meiner Tür verirrt. Schade! Es scheint, als ob diese alte Erfurter Tradition immer mehr in Vergessenheit gerät. Dafür klingeln nun wenige Tage zuvor Halloweengeister an meiner Tür und erpressen „Süßes oder Saures".