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Jürgen Krätzer

Kennst du Gotthold Ephraim Lessing?

Jürgen Krätzer eröffnet uns eine neue Sicht auf den Autor. Er war eine faszinierende Persönlichkeit, ein kluger Kopf mit spitzer Zunge und sensiblem Herzen – ein „Freigeist“.

Martins Garten

Martins Garten

Florian Russi

(Bild 1)
(Bild 1)
In Erfurt lebte ein junger Kaufmann, der den Namen Martin trug. Der hatte sich bei einer Reise nach Budapest in das Mädchen Marika verliebt.
Kaum wieder zurück in Erfurt, packte ihn eine unbändige Sehnsucht nach Marika, und täglich schrieb er ihr einen Brief. In seiner Liebe beschloss er, hinter seinem Haus mitten in der Stadt einen Garten anzulegen, wie es weit und breit keinen schöneren gab. Er grub die Erde um, legte Rabatten, Hügel und Steingärten an, einen Teich und Girlanden, er pflanzte Bäume, Sträucher, Gräser und vielerlei Blumen. Am Teich, unter einem Strauch duftender Rosen, stellte er eine Bank auf und einen eichenen Tisch. Dort saß er jeden Abend, teilte sich der Freundin in langen Briefen mit und verzehrte sich in Liebe und Sehnsucht.
(Bild 2)
(Bild 2)
»Ich habe heute ein Ginkgo-Bäumchen gepflanzt«, schrieb er ihr. »Mein Gärtner hatte große Mühe, einen Keimling zu besorgen.«
»Ich stelle mir vor, wie du in deinem schönen Garten alleine sitzt«, antwortete sie ihm, »in mitten blühender Rosen und junger Bäume und Sträucher. Doch sag‘ mir, mein Liebster, was ist ein Ginkgo-Baum?«
Er nahm Papier und malte so gut er konnte einen Ginkgo darauf. Ein Blatt des Bäumchens legte er zusammen mit der Zeichnung seinem Antwortbrief bei.
»So etwa sieht ein Ginkgo aus ...« schrieb er und fügte hinzu: »Als ich gestern Abend in den Garten kam, saß auf dem Baum ein Zaunkönig und pfiff eine wunderschöne Melodie. Der Vogel war verliebt wie ich. Sicher wollte er mich mit seinem Gesang dafür trösten, dass du so weit weg von mir bist.«
(Bild 3)
(Bild 3)
»Wie gerne wäre ich bei dir«, antwortete Marika. »Auch ich brenne vor Liebe zu dir, denke immerzu nur an dich, und kein Vogel kommt geflogen, um mich ein wenig aufzumuntern. Nie habe ich einen Zaunkönig singen hören. Wie klingt sein Gesang? Könnte ich mir doch wenigstens selbst die Melodie vorsummen, wenn ich alleine und in Gedanken bei dir bin.«
Er hätte ihr Noten aufmalen können, doch das hatte er nicht gelernt. Also versuchte er, ihr zu beschreiben, wie der Wohlgeruch der Wildrose »Safira« ihn erfreue und ihn daran erinnere, wie er sie in seinen Armen gehalten und seine Nase in ihrem frisch gewaschenen Haar vergraben hatte.
»Immer wieder kämme ich mit den Händen durch mein Haar«, erwiderte sie, »und ich warte auf dich, dass du jeden Augenblick zu mir kommen mögest. Wie gerne würde ich meine Nase in den Blüten der Wildrose versenken und es selbst erleben, wie betörend sie duftet.«
Er legte seiner Liebesbotschaft ein paar Rosenblätter bei, in der Hoffnung, dass sie auf der weiten Reise nicht zu viel von ihrem Duft verlieren mochten. Dann setzte er fort: »Gerade habe ich Perlmoose gepflanzt mit einer Behutsamkeit und Zärtlichkeit, wie ich sie für dich empfinde. Anschließend habe ich sanft darüber gestreichelt und mir vorgestellt, dass du es wärest, die ich streichele.«
»Ja, streichele mich immerzu,« antwortete Marika. »Ich will nicht eifersüchtig sein auf die Perlmoose, aber ich kenne sie nicht, und so weiß ich nicht, wie du bei ihnen empfindest und was, wie du so lieb schreibst, doch nur mir gelten soll.«

(Bild 4)
(Bild 4)
In Martins Garten waren inzwischen die ersten Früchte gereift, und er schrieb ihr:
»Jeden Tag lachen mich die dunkelroten Rocara-Kirschen an. Sie schmecken so herrlich süß und aromatisch, dass ich ihnen nicht widerstehen kann. Ich denke an deine dunklen Augen und stelle mir vor, sie innigst zu küssen.«
»Oh Liebster« antwortete sie ihm, »küsse mich mit all deiner Leidenschaft. Ich steige zum Himmel auf, und du wirst Mühe haben, mich festzuhalten. Nie in meinem Leben habe ich eine Rocara-Kirsche gegessen. Sie wächst in keinem unserer Gärten.«
Nachdem er dies gelesen hatte, hielt es Martin nicht länger in Erfurt. Er ließ seine Kutsche vorfahren und machte sich auf die lange Reise nach Budapest. Dort umarmte er Marika zärtlich und lud sie ein, mit ihm zu kommen. »Wie soll ich dir mitteilen, was sich nicht beschreiben läßt? Komm mit mir in meinen wunderschönen Garten und sieh, höre, rieche, fühle und schmecke selbst, wie ich dich liebe.«

  

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Teaserfoto: http://pixabay.com/de/steingarten-steine-gr%C3%BCne-pflanze-111388/
Bild 1: http://pixabay.com/de/rosen-rose-blumen-blume-pflanzen-279583/
Bild 2: http://pixabay.com/de/ginkgo-ginkgobaum-gelbe-ginkgo-baum-514819/
Bild 3: http://pixabay.com/de/haus-zaunk%C3%B6nig-vogel-gliedma%C3%9Fen-101613/
Bild 4: http://pixabay.com/de/kirsche-s%C3%BC%C3%9Fkirsche-rot-frucht-obst-167341/

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