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Zu Gast in Weimar

George Eliot; deutsche Übersetzung: Nadine Erler

Zu den vielen Künstlern, die es nach Weimar zog, gehörte auch die englische Schriftstellerin George Eliot. Im Sommer 1854 verbrachte sie drei Monate im kleinen, doch weltberühmten Städtchen an der Ilm. George Eliots schriftlich festgehaltenen Eindrücke sind äußerst amüsant. Dieser Blick einer Fremden lässt Weimar in anderem Licht erschienen.

Broschüre, 40 Seiten, 2019


Ben Heidemann

Ben Heidemann

Florian Russi

Vor vielen Jahren, noch bevor Luther die dortige Universität besuchte, trat in Erfurt ein Kaufmann arabischer Herkunft auf. Er nannte sich Ben Akr Mousa, wurde jedoch, da er sich zum muslimischen und nicht zum christlich-römischen Glauben bekannte, von den Erfurtern Ben Heidemann genannt.

Ben Heidemann war, als er erstmals nach Erfurt kam, etwa vierzig Jahre alt. Wie man es von einem weitgereisten Araber erwartete, war er ein überaus umtriebiger Geschäftsmann. Neben arabisch sprach er leidlich deutsch sowie italienisch. Tunis, Venedig und Basel waren die bisherigen Stationen seines Händlerlebens. Aus Erfurt exportierte Ben Heidemann vor allem Waidfarbstoffe und Wollwebereien. In der Stadt, auf dem so genannten Anger, sowie in den umliegenden Ortschaften verkaufte er Gewürze. Er trieb aber nicht nur Handel. Die von ihm selbst hergestellten Würzen und Soßen waren sehr begehrt und wurden teuer bezahlt.

Ben Heidemann
Ben Heidemann

Ben Heidemann war wegen seiner freundlichen Umgangsformen bei Kunden und Händlerkollegen beliebt. Seine Herkunft aus dem Lande der »Mohren« erweckte zugleich ihre Neugier und Phantasie. Sie stellten sich vor, wie er in seiner Heimat mit jeder Menge glutäugiger Frauen geschlafen hätte. In Erfurt aber lebte Ben Heidemann unbeweibt. Er suchte auch nie die Gesellschaft von Dirnen auf.

Nach nicht einmal zwei Jahren war der geschickte Händler und Fabrikant ein reicher Mann geworden. Er wandte sich daher an den Rat der Stadt mit der Bitte, ein Haus kaufen und das Bürgerrecht erwerben zu dürfen. »Ich habe in Erfurt mein Glück gefunden«, sagte er. »Vielleicht finde ich ja auch eine Frau, die bereit ist, mich zu heiraten.«

»Er ist zwar Mohammedaner« sagten sich die Ratsherren, »das ist jedoch nicht seine Schuld, wenn er in Afrika geboren wurde. Die Stadt kann einen Steuerzahler gut gebrauchen. Ob allerdings eine Christin ihn heiraten würde, möchten wir bezweifeln. Vielleicht bringt sie ihn jedoch dazu, sich zum Christentum zu bekehren.«

Tatsächlich zeigte Ben Heidemann plötzlich reges Interesse an den Grundlagen und Gebräuchen des christlichen Glaubens. Er suchte das Gespräch mit Klosterbrüdem sowie mit Magistern und Professoren der theologischen Fakultät an der Universität, der fünftältesten im deutschen Sprachraum. Gleichzeitig sah man ihn häufiger auf Gesellschaften, und er war immer öfter nicht nur auf dem Anger in Erfurt, sondern auch in der weiteren Umgebung der Stadt anzutreffen. »Ben Heidemann ist auf Brautschau«, sagten die, welche ihn näher kannten.

Oft fuhr er in dieser Zeit nach Berlstedt, wo er mit dem ortsansässigen Händler Roland Freundschaft geschlossen hatte. Wenn er ihn besuchte, ließ er es sich nicht nehmen, diesen beim Verkauf seiner Waren zu unterstützen.

Eines Tages betraten den Laden Rolands zwei Frauen, nach Aussehen und Verhalten Mutter und Tochter. Sie fragten nach Gewürzen zum Kuchenbacken, denn es stand ihnen eine Familienfeier ins Haus. Kläre und Charlotte, so nannte Roland die beiden, wollten ihren Gästen eine besondere Gaumenfreude bieten und stellten viele Fragen. »Lass mich die Damen bedienen«, sagte Ben deshalb zu Roland. »Über Gewürze kann ich am besten Auskünfte geben.« Er zeigte den Frauen sein vielfältiges Angebot, ließ sie daran riechen und davon schmecken und überzeugte sie von der Qualität seiner Ware. »In meiner Heimat in Tunis ist ein Kuchen sehr beliebt, dessen Zutaten aus Nüssen, Mandeln, Rosinen und Rosenwasser bestehen«, sagte er. »Es würde mich freuen, einen solchen Kuchen für Euer Fest backen zu dürfen. Er wird Euren Gästen schmecken wie kein anderer.«

Die Damen willigten ein, und Roland schaute prüfend zu Ben Heidemann. Er bemerkte, dass dessen Hände zitterten und Schweißperlen auf seine Stirn getreten waren. Der hat sich in Charlotte verliebt, dachte er, doch muss ich ihn warnen. Eine gute Partie ist sie nicht.

Als die beiden Frauen den Laden verlassen hatten, gestand Ben seinem Freund, dass er Gefallen an Charlotte gefunden habe. Allerdings sehe er ein, dass sie zu jung sei für einen vierzigjährigen Mann wie ihn.

»Sie ist siebzehn«, klärte Roland ihn auf. »Tatsächlich sehr jung«, erwiderte Ben Heidemann nachdenklich. »Hat sie noch Geschwister?«

»Einen zwanzigjährigen Bruder noch, Johannes heißt er«, antwortete Roland und man konnte merken, dass es ihm Freude machte, etwas aus dem Dorftratsch zu berichten. »Eigentlich ist er ihr Halbbruder. Kläre hatte vor ihrer Hochzeit ein Verhältnis mit einem jungen Mann aus einer Nachbargemeinde. Er hieß Tobias und war ein Träumer. Mehrere Lehren hat er angefangen und keine davon abgeschlossen. Im Kinder- machen hatte er mehr Geschick. Als Kläre von ihm schwanger geworden war, hat er bei deren Vater um die Hand seiner Tochter angehalten. Der Vater hat das abgelehnt und ihn angeschrieen, er sei ein verkommenes Wesen. Kläres Vater war sehr jähzornig. Es kam zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden. Mit einem Beil soll Tobias ihn dann erschlagen haben. Jedenfalls lag der Vater leblos in seinem Blut, als man ihn auffand. Besagter Tobias aber war davongerannt, und man weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Kläre hat dann später den Schuster Mädler geheiratet. Sie ist nicht glücklich mit ihm geworden. Die gemeinsame Tochter aber ist ihnen gelungen. Charlotte ist hübsch und ein braves Mädchen. Ihre Familie jedoch ist arm, der Vater ein ewig unzufriedener Nörgler. Ein Mann deines Standes sollte nach einer besser gestellten Frau suchen.«

Ben Heidemann folgte Rolands Rat nicht und umwarb Charlotte mit allerlei Aufmerksamkeiten und Geschenken. Ihr Vater, der Schuster, sah es mit Missfallen. Nicht der Altersunterschied, sondern die Religionszugehörigkeit des Freiers seiner Tochter störte ihn. Ben versprach, dass er die Kinder, die ihm Charlotte schenken würde, im christlichen Glauben erziehen werde. Auch deutete er an, dass er sich vorstellen könne, seinen bisherigen Glauben aufzugeben.

Tatsächlich erkundigte er sich bei einem geistlichen Chorherren danach, welche Voraussetzungen er für eine Konversion erfüllen müsse. Schließlich entschied er sich dann doch, seinen muslimischen Glauben beizubehalten. »Ich tue dies aus Rücksicht gegenüber meinem Vater und dem Land, aus dem ich komme. Auch bin ich mir nicht sicher, ob ich jemals ein so gläubiger Christ sein könnte, wie das die Kirche mit Recht von mir erwarten würde.«

Er willigte jedoch in eine christliche Trauung ein und gelobte vor dem Pfarrer, seine Kinder christlich zu taufen und zu erziehen. So heiratete er Charlotte, die ihm in Liebe verbunden war. Schon ein Jahr nach der Hochzeit bekamen sie ihr erstes Kind, eine Tochter, der sie nach ihrer Großmutter den Namen Kläre gaben. Währendessen baute Ben Heidemann mit großem Erfolg seine Geschäfte aus. Er reiste viel und erweiterte stetig seine Handelsnetze. Insbesondere seine Fabrik für Gewürze und Essenzen gedieh und brachte seiner Familie Vermögen und Wohlstand. Ben Akr Mousa, genannt Ben Heidemann, erfüllte seine bürgerlichen Pflichten, spendete viel für die Armen und wurde zu einem angesehenen Bewohner der Stadt.

Erfurt stand zur damaligen Zeit unter der Herrschaft des Bischofs von Mainz. Der ließ der Stadt und ihren Bürgern viele Freiheiten, solange sie nur die ihnen auferlegten Steuern und Abgaben entrichteten. Ab und zu schickte er Gesandte und Inspektoren, die in seinem Sinne nach dem Rechten sahen, Gericht abhielten oder über die Einhaltung der religiösen Verpflichtungen wachten.

Eines Tages, Ben Heidemann war gerade zu einer Geschäftsreise nach Basel aufgebrochen, kam wieder solch eine bischöfliche Gesandtschaft nach Erfurt. Sie erfuhr von dem seltsamen Kaufmann, der Muslim war und eine Christin geheiratet hatte. Der bischöfliche Administrator ließ daraufhin Charlotte, Bens Frau, zu sich kommen und befragte sie eingehend nach ihrem Mann und ihrer Ehe. »Muslime sind Feinde der Christenheit«, sagte er. »Sie haben die Kreuzritter aus dem Heiligen Land vertrieben und den Pilgern den Weg zu den Ursprungsstätten des Christentums versperrt. Erfurt ist eine christliche Stadt, wenn dein Mann dich liebt, so sollte er auch deinen Glauben annehmen.«

Charlotte sprach darüber mit ihrer Mutter Kläre. »Rede du mit ihm, ich habe festgestellt, dass du großen Einfluss auf ihn hast. Er lebt wie ein Christ, außer dass er zur Kirche geht und die Sakramente empfängt. Ein Glaubenswechsel dürfte ihm nicht schwer fallen.«

Als Ben Heidemann nach mehreren Monaten von seiner Reise zurückkehrte, bat Kläre ihn zu einen vertraulichen Gespräch. »Wäre es nicht besser für dich und deine Familie, wenn du zur römischen Kirche zurückkehren würdest, Tobias?« sagte sie. Da wurde ihm klar, dass sie ihn schon lange wiedererkannt hatte. »Ja, ich bin Tobias«, gestand er und erzählte ihr seine Geschichte.

»Es war feige von mir, dass ich nach dem Tod deines Vaters in die Fremde geflohen bin. Als ich das eingesehen habe, war es leider zu spät. Ich habe deinen Vater nicht getötet. Er hatte all seine Beherrschung verloren und wollte mit einem Beil blindwütig auf mich einschlagen. Dagegen habe ich mich gewehrt, und dabei ist er zu Tod gekommen. Es war keine Absicht. Doch wer hätte mir geglaubt? Ich sah ihn reglos auf dem Boden liegen, bin in Panik gefallen und konnte nur noch an Flucht denken. Über die Alpen bin ich marschiert, habe mich durch Gelegenheitsarbeiten und kleine Diebstähle ernährt, bis ich schließlich nach Genua kam. Dort lag ein Schiff im Hafen, dessen Kapitän Männern wie mir eine Heuer anbot. Ich war nie zur See gefahren, aber es war meine einzigste Chance, mich peinlichen Befragungen der genuesischen Behörden zu entziehen.

Unser Schiff fuhr nach Tunis, aber nicht, um dort Gewürze zu laden, wie uns gesagt worden war. Vielmehr verkaufte unser Kapitän die gesamte Schiffsbesatzung an Sklavenhändler. So geriet ich in den Besitz eines Kaufmanns mit Namen Hassan. Er war jähzornig, unbeherrscht und grausam. Seine Launen ließ er an seinen Sklaven und Sklavinnen aus. Ständig schlug er uns. Jahre unerträglicher Demütigungen und Qualen begannen. Als ich schließlich überlegte, ihn umzubringen und auch mein Leben zu beenden, trat eine unerwartete Wende ein. Hassan hatte sich überschuldet.

Sein Geschäft und die meisten seiner Sklaven wurden von Akr Mousa, seinem größten Gläubiger übernommen. Im Gegensatz zu Hassan war Akr Mousa ein gerechter Mann, der mir wie ein Vater wurde. Er ließ mich viel lernen, in der Herstellung von Gewürzen und Soßen war er ein wahrer Meister. Auf seinen Wunsch hin bin ich Muslim geworden. Er hat mir sogar erlaubt, eine seiner Sklavinnen zur Frau zu nehmen.

Es gab keinen anderen Weg. Jede Flucht war aussichtslos. Sklaven, die es versucht hatten, waren grässlich zugerichtet worden. Zwölf Jahre lang habe ich Akr Mousa treu gedient, und er hat mir ständig neue Aufgaben anvertraut. Eines Tages beauftragte er mich, auf der Insel Malta eine Ladung Gewürze zu verkaufen. Bevor jedoch unser Schiff landen konnte, gerieten wir in einen furchtbaren Sturm. Drei Tage kämpften wir gegen das Unwetter an. Dann fanden wir uns halbtot irgendwo auf offener See treibend wieder. Ein Schiff aus Venedig nahm uns an Bord. Wir wurden unter Deck gebracht, und mir wurde bald deutlich, dass wir nicht gerettet, sondern in eine neue Sklaverei geraten waren.

Zur Besatzung des venezianischen Schiffes gehörte ein Mann, der aus der Schweiz stammte. Er gab mir den Rat, mich nicht als gebürtiger Europäer und ehemaliger Christ zu bekennen. Andernfalls würde ich als Verräter am wahren Glauben der Inquisition überstellt und qualvollen Verhören und Folterungen unterzogen. »Schon viele sind so auf grausame Weise hingerichtet worden«, sagte er.

Als wir in Venedig ankamen, wurden die meisten von uns an dortige Händler verkauft. Zwei, die sich als ehemalige Christen bezeichnet hatten, hat man tatsächlich an die Inquisition ausgeliefert. Wir haben nie wieder von ihnen gehört.

Erneut war ich bei einem Gewürzhändler gelandet, immer noch als Sklave ohne Würde und Rechte. Zwei Jahre lang lebte ich in Italien, lernte etwas von der Sprache und noch mehr vom europäischen Gewürzhandel. Alle hielten mich für einen aus Tunis stammenden Mohammedaner. In den vorangegangenen Jahren hatte ich auch äußerlich viel von einem Nordafrikaner angenommen.

Eines Tages beauftragte mich mein neuer Herr, nach Basel zu ziehen und dort für ihn eine Handelsfiliale zu errichten. Das habe ich getan. Ich war so erfolgreich, dass ich bald viel eigenes Geld verdiente. Nach zwei Jahren konnte ich mich von meinem venezianischen Herrn freikaufen.
Nun sollte ich sein Geschäftspartner in Basel werden. Doch die Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache hatte mich heimwehkrank gemacht. Ich hatte nur noch den einen Wunsch, zurück in meine Heimat zu fahren. So bin ich in Erfurt gelandet. Insgeheim habe ich Erkundigungen nach dir eingeholt. Ich hatte die Hoffnung, dass du entweder ledig geblieben oder verwitwet wärst.

In den Jahren meiner Sklaverei habe ich unzählige Nächte nur an dich denken können. Immer wieder habe ich den Tod deines Vaters bereut und die Feigheit verflucht, mit der ich damals davongelaufen war. Nur wegen der Hoffnung, dich wiederzusehen, habe ich mich mit dem Händler Roland angefreundet. Es tut mir unendlich leid, was ich dir angetan habe.«

»Am Tag deiner Verlobung mit Charlotte war ich mir erstmals sicher, dass du Tobias sein musstest«, antwortete Kläre. »Um meine Tochter nicht auch noch unglücklich zu machen, habe ich mir geschworen, das Geheimnis für mich zu behalten.«
Er schaute zu Boden. »Bist du mir böse?«

Sie schien nach Luft zu ringen. »So etwas fragst du mich nach mehr als zwanzig Jahren? Du hast mir den Vater genommen, mich mit unserem gemeinsamen Kind allein gelassen und dem Gerede und der Verachtung im Dorf ausgesetzt! Erwarte nicht, dass ich deine Frage beantworte. Sieh lieber zu, wie du verhinderst, dass weiteres Unglück über deine Familie kommt! Bekenne dich wieder zum Christentum, schon um deiner eigenen Seele willen!«

»Ich möchte Johannes, unseren Sohn, in die Lehre nehmen und ihn so gut ausbilden, dass er mein Geschäft übernehmen und seine und meine Familie ernähren kann«, antwortete Ben Heidemann, der eigentlich Tobias hieß. »Schon längst habe ich versucht, meine Rückkehr zum Christentum vorzubereiten und aus diesem Grund auch die Gesellschaft von Mönchen und anderen Geistlichen gesucht. Ich hatte geglaubt, genug durchlitten und gebüßt zu haben. Doch für Leute wie mich gibt es keine Befreiung aus der Schuld, die sie einmal auf sich geladen haben. Ich habe mich in ein Netz verstrickt, aus dem kein Entweichen möglich ist.«

»Die Kirche wird dir vergeben«, erwiderte Kläre.

»Erst, nachdem ich auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder gevierteilt worden bin«, entgegnete Tobias. »Ich habe mich vorsichtig bei meinen geistlichen Freunden erkundigt. Wenn ich mich zum Christentum bekehren will, muss ich mein ganzes bisheriges Leben offenbaren. Ich muss sagen, wer ich bin, dass ich möglicherweise einen Menschen getötet habe. Man wird mir das Geständnis abpressen, dass ich Muslim nur geworden bin, um mein Leben in der Sklaverei angenehmer zu gestalten. All dies reicht aus, um mich qualvoll hinzurichten.

Bisher war ich zu feige, den Tod und vor allem die Folter auf mich zu nehmen. Jetzt wäre ich aus Liebe zu meiner Familie bereit dazu. Doch es würde nichts nutzen. Man würde euch mein Vermögen wegnehmen und elend verarmen lassen. Ein weiteres kommt hinzu: Charlotte, meine Frau, ist als deine Tochter die Halbschwester meines leiblichen Sohnes Johannes. Damit lebe ich nach der Auffassung kirchlicher Würdenträger mit der Blutschande. Auch dies ist ein strafwürdiges Vergehen. Wenn ich mich erst einmal der kirchlichen und damit der herrschaftlichen Gewalt ausgeliefert habe, wird es kein Entkommen mehr für mich geben. Ich habe darüber nachgedacht, mein Leben selbst zu beenden. Doch auch dies hätte zur Folge, dass man euch meine Hinterlassenschaft wegnehmen würde. Daher werde ich einen anderen Weg suchen müssen, um wenigstens Charlotte, meinen Kindern, dir und unserem gemeinsamen Sohn die Lebensgrundlage zu erhalten.«

In den folgenden drei Jahren widmete Ben Heidemann, der er für alle außer Kläre geblieben war, sich nur noch seinen Geschäften. Er bildete Johannes zu einem tüchtigen Händler und Hersteller von Gewürzen und Soßen aus, zahlte getreu seine Abgaben an die Stadt und war oft in geschäftlichen Dingen unterwegs. Die bischöflichen Abgesandten, die hin und wieder aus Mainz nach Erfurt kamen, hätten ihn gern einmal persönlich kennengelernt. Doch gerade dann war er unterwegs nach Basel, Hamburg oder Antwerpen. Sein Unternehmen ließ ihm keine Beständigkeit. Es wurde jedoch allseits bestätigt, dass er ein fleißiger Steuerzahler und seine Angehörigen brave Christen waren.

Eines Tages wurde er zurückerwartet, kam jedoch nicht wieder. Seine Familie meldete ihn als verschollen. Man hatte von mehreren Überfällen auf reisende Kaufleute gehört. Vieles sprach dafür, dass Ben Heidemann zu den Opfern gehörte.
Der jedoch befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg nach Italien. Er hatte sich eine neue Identität zugelegt: Bruno Belutti, Sohn einer Schweizerin und eines Italieners. Unterwegs erzählte er, dass er an einer unheilbaren Krankheit leide und vor seinem Ableben noch eine Wallfahrt nach Rom machen wolle.

Tatsächlich fühlte er sich sehr krank. Der Überlebenswille, der ihn so vieles hatte durchstehen lassen, war ihm geschwunden. In einer Kaschemme, in die er einkehrte, lernte er Ugo kennen, einen heruntergekommenen, dem Alkohol verfallenen älteren Mann. Tobias, wie wir ihn von jetzt an nur noch nennen wollen, lud ihn aus Freundlichkeit zum Essen und Trinken ein. Ugo lächelte ihn dankbar an und erzählte aus seinem Leben.

»Ich bin Priester«, sagte er. »Zwar hat man mich meiner Ämter enthoben, aber ich bin geweiht. Wenn du in Not bist und kein anderer Priester in der Nähe ist, kann ich dir sogar deine Sünden vergeben.«

Da erzählte ihm Tobias aus seinem Leben und davon, dass er Angst davor habe, seine Seele könne der ewigen Verdammnis anheimfallen. Ugo sprach ihm Mut zu, und von da an zogen die beiden gemeinsam weiter.

»Wenigstens hast du auch Erfolg, Glück und Anerkennung in deinem Leben gefunden«, befand Ugo. »Mich dagegen hat man immer als Versager bezeichnet. Ich wollte alles richtig machen, doch ständig wurde ich von meinem Vorgesetzten gerügt und verachtet. Es war ihnen nicht recht, dass ich mit meinen Pfarrkindern geplaudert, gegessen und gesungen habe. Sie haben mich getadelt, weil ich auf der Straße mit den Kindern gespielt und mich auch gegenüber der Amtsgewalt für die mir anvertrauten Seelen eingesetzt habe. Immer hieß es: >So etwas tut ein Priester nicht.<
Irgendwann habe ich angefangen zu trinken, bin zu Huren gegangen und habe dem Weihbischof die Zunge herausgestreckt. Jetzt bin ich nur noch ein Vagabund, der auf Gottes Erbarmen hofft.«

Als sie nicht weit von Rom in einer kleinen Stadt anlangten, fühlte Tobias, dass er zu schwach sein würde, das Ziel noch zu erreichen. Sie kehrten in ein Hospiz für Pilger ein und schliefen dort nebeneinander auf Strohsäcken.

In der Nacht weckte Tobias Ugo aufund sagte: »Es geht mit mir zu Ende. Nimm mir die Beichte ab.«

Alles, was er noch bei sich hatte, schenkte er dem Priester. Auch einen Brief übergab er ihm: »Solltest du jemals Gelegenheit haben, nach Erfurt zu kommen, übergib ihn meiner Frau und meinen Kindern. Versichere ihnen, dass ich sie sehr geliebt habe.«

Ugo versprach es und hielt Tobias‘ Hand. »Wenn ich auch nie zu etwas getaugt in meinem Leben«, sagte er, »so bin ich doch froh, wenigstens deiner Seele Trost gegeben zu haben.« Tränen rollten über sein Gesicht. Er wurde sich bewusst, dass er im Begriff stand, den einzigen Menschen zu verlieren, den er in seinem Leben zum Freund gewonnen hatte.

***
Aus: Der Drachenprinz von Florian Russi, Bertuch Verlag Weimar

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