Der Thüringer Ludwig Bechstein (1801–1860) ist einer der bekanntesten Sammler deutscher Märchen und Sagen. Auf seiner Suche nach vergangenen schaurigen oder ungewöhnlichen Begebenheiten hat er sich auch unter den Erfurtern umgehört, was sie damals an Überliefertem zu berichten wussten.
Bechstein hat nur gesammelt, nicht gewertet. Er wusste, jede Überlieferung beruht auf einem wahren Ereignis. So hielt er in seinem "Deutschen Sagenbuch" auch fest, was als Sage weniger Unterhaltungwert hatte, wie zum Beispiel jene drei Texte, die uns heute des Aufschreibens bzw. Erzählens kaum noch Wert erscheinen mögen.
Das stille Kind [589.]
Im März des Jahres 1677 hat sich in der Erfurter Flurmarkung ein zehnjährig Mägdlein sehen lassen; seine Haare waren in Zöpfe geflochten, hatte ein weißes Kleid an und sah im Gesicht ganz bleich aus. Es ging durch die Alacher und Bündersleber Felder, redete mit sich selbst, niemand aber konnte es verstehen. In der Hand hatte es ein braunrot Stäblein und schlug damit, indem es durchs Getreide oder über die Wiesen ging, die Blumen ab, daß man solche aller Orten herumliegen sahe. Wollte diesem stillen Kinde jemand entgegengehen, ihm Rede abzugewinnen oder nachgehen, es um seine Herkunft und sein seltsames Tun zu befragen, so kam den Leuten ein so gewaltiges Grauen an, daß sie es nicht wagten, sondern scheu zurückwichen. Und niemand hat erfahren, welche Bewandtnis es mit dem stillen Kinde gehabt hat.
Kurzer Prozeß [594.]
Absonderlich kurzen Prozeß machte der Erfurter Stadtrat mit Mordbrennern, sie mochten solche scheußliche Tat getan oder auch nur ausführen gewollt haben. Nach Donndorf, einem erfurtischen Dorfe, kam ein Mann, der bot von Haus zu Haus Gänse feil, die Bauern argwohnten aber in besagtem Gänsemann einen Auskundschafter, verstrickten ihn und führten ihn nach Erfurt, dort ward er scharf befragt und bekannte, er habe des Dorfes Gelegenheit allerdings auskundschaften und verraten wollen, sei auch dabei gewesen, wie das Dorf Berlstett angesteckt worden. Darauf ward er wieder nach Donndorf geführt, ihm alldort der Kopf abgeschlagen und der Leib gevierteilt.
In Erfurt selbst ward einer gesehen, der trug einen Strohwisch und ging damit zum Tore hinaus. Das erregte Verdacht, es ward ihm nachgesendet, und er wurde gefangen eingebracht. Befragt, und ohne Zweifel mit der scharfen Frage, bekannte der Mann, er habe erfurtische Dörfer anstecken wollen, worauf man ihm, erzählt die Chronik, den Kopf abschlug und ihn hingehen ließ, wohin er wollte.
Der zärtliche Wolf [596.]
Im Jahre 1555 im Sommer lief etliche Wochen lang im Weichbild der Stadt Erfurt ein Wolf herum, der lief den Leuten auf dem Felde nach, umarmte, herzte und drückte sie, absonderlich die Weibspersonen, tat ihnen aber sonst kein Leides und biß niemand. Wenn er aber so eine oder die andere umschlungen hielt und den Rachen aufriß, der von einer ungewöhnlichen Größe war, ist sie doch so erschrocken, daß sie fast den Tod davon hatte. Glaubwürdige Leute sollen das gesehen und ausgesagt haben.
In seinem Deutschen Sagenbuch berichtet Bechstein auch von Dr. Johann Fausts Aufenthalt in Erfurt. Mehr hierüber erfahren Sie unter Das Faustgässchen und Fausts Streit mit der Geistlichkeit.