Schiller und Goethe
gingen in diesem Haus ein und aus.
Wilhelm von Humboldt
vermählte sich hier mit
Caroline von Dacheröden
(1791)
Goethe, Schiller, Humboldt – wer kennt sie nicht? Städte, die von den auf der Tafel genannten Herren besucht wurden, schmücken sich bis heute mit diesen berühmten Gästen. So auch Erfurt. Bummelt man die Hauptgeschäftsstraße, dem Anger entlang, findet man am Haus Nummer 37 obige Tafel. Die einzige Frau auf dieser Tafel aber ist heute weitgehend unbekannt. Es scheint nur von Bedeutung zu sein, dass der berühmte Wilhelm von Humboldt, Wissenschaftler, Universitätsgründerund Politiker, sich mit der Tochter des Hauses, Caroline von Dacheröden, vermählte.
Heute erinnert sich kaum jemand an sie, jedoch zu Lebzeiten rühmten neben Goethe und Schiller viele bedeutende Zeitgenossen Carolines Bildung, ihre intellektuellen Fähigkeiten, priesen sie als geistvolle, einfühlsame Gesprächspartnerin und als bedeutende Kunstkritikerin. Ja, sie bezeichneten sie sogar als geistreichste Frau Europas in ihrer Zeit und ihr berühmter Schwager Alexander von Humboldt brachte zum Ausdruck, was viele Menschen nach Begegnungen mit ihr empfanden: „Wie kann ich Dir, liebe Li, nur für die große Freundschaft danken, die Du mir während des letzten Besuches in Berlin bewiesen hast. Die Erinnerung an diese glückliche Zeit wird mich niemals verlassen.“
Caroline Friederike von Dacheröden wurde am 23. Februar 1766 in Minden geboren. Der Vater, Karl Friedrich von Dacheröden, entstammte einem alten thüringischen Adelsgeschlecht. Standesgemäß hatte er die Gräfin Ernestine Friderica von Hopfgarten geheiratet, und ihre beiden Kinder, der zwei Jahre ältere Sohn Ernst und Tochter Caroline, verbrachten eine ungetrübte Kindheit auf dem Gut Burgörner, einem heutigen Vorort von Hettstedt, im Mansfelder Gebiet. Anfang der siebziger Jahre zog die Familie nach Erfurt in das bekannte Renaissancehaus am Anger, das seitdem als Haus Dacheröden in die Stadtgeschichte eingegangen ist. Hier wurde die ungetrübte Kindheitdurch den plötzlichen Tod der Mutter je beendet. Ihre liebevolle, gütige Art im Umgang mit der Tochter, ihre Fürsorglichkeit und ihr Verständnis für das zarte, gefühlsbestimmte Kind, das alles brach unerwartet für die achtjährige Caroline weg. Hilflos und unterdrückt, ohne liebevolle Zuwendung fühlte sie sich der veränderten Situation mit der für ihre Erziehung eingestellten französischen Gouvernante Madame Dessault ausgeliefert. Unter der lediglich auf Anstand und Etikette ausgerichteten autoritären Erziehung litt das Mädchen ungemein und bewältigte den Verlust ihrer Mutter nur schwer.
An geistigen Anregungen aber sollte es für die Heranwachsende in ihrem Vaterhaus nicht fehlen. Für ihre Entwicklung ist diese Atmosphäre von großer Bedeutung. Insbesondere die Einbeziehung des Kindes in den regen Gedankenaustausch mit Freunden des Vaters und die vielseitigen Bildungsangebote förderten ihre Entwicklung. Caroline lernte Französisch, Englisch, Latein und Griechisch und erhielt Klavier- sowie Zeichenunterricht. Insbesondere ein Freund des Vaters, Fürst Carl Theodor von Dalberg, der als Statthalters des Erzbischofs von Mainz in seinem Palais residierte, gewann durch den Zeichenunterricht, den er zur Freude Carolines erteilte, Einfluss auf ihre Entwicklung. Besonders bekannt wurden seine Assambleen, (Diskussionstreffpunkte im Salon) gebildeter Adliger und Bürgerlicher zu aktuellen Themen der Zeit , die in mehreren Städten Deutschlands und Europas entstanden.Die revolutionären Ereignisse in Frankreich und die Forderungen, die politischen Verhältnisse im zersplitterten Deutschland zu verändern, waren häufig Gegenstand dieser Diskussionen. Gleichwohl spielte die zeitgenössische Literatur eine große Rolle an diesen Abenden. So wurde Goethes „Bestseller“ „Die Leiden des jungen Werther“ von den jugendlichen Diskutanten begeistert aufgenommen. Leidenschaftlich befürworteten sie, sich zu Gefühlen, zu Freundschaft, Treue und zur Liebe zu bekennen, auf vorgeschriebene Etikette zu verzichten und lehnten auf Standesdünkel erzwungene Ehen der adligen Gesellschaft ab. Diese ungezwungenenauf Augenhöhe geführten Gespräche beeindruckten Caroline tief und führten dazu, dass sie sich mit den philosophischen Gedanken und mit zeitgenössischer Literatur auseinanderzusetzen begann. Darüber hinaus beeinflussten hochrangige Gäste ihres Vaters, wie Goethe, Wieland oder Herder, ihre Gedankenwelt. Überhaupt legten Vater und Tochter großen Wert auf Bildung als wichtige Voraussetzung, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Ein bescheidener Ansatz des Beginns der Emanzipation von Frauen und Mädchen am Ende des 18. Jahrhunderts.
Auf Grund ihrer drängenden Bitten übergab der Vater ihre Erziehung endlich dem für den Bruder engagierten jungen Hauslehrer, Rudolph Zacharias Becker, dem sie nach ihrer Aussage „alles verdankt“. [...] Doch das heranwachsende Fräulein von Dacheröden lernte und strebte keineswegs ausschließlich. Sie genoss ausgelassen die Feste und Bälle in Erfurt und Burggörner, bei denen ihr der Vater viel Freiheit gewährte. Der Jugendfreund Constantin Beyer aus Erfurt schwärmte von Caroline: „Ich an der Seite eines der herrlichsten Mädchen Deutschlands, …ein Engel ihres Geschlechts…“
Über ihre Jugenderlebnisse gestand sie später ihrem Mann: „Von meinen Liebschaften soll ich Dir erzählen? – Ja, da wird’s schlimm aussehen, […] aus denen, die um meine Hand geworben haben, wollt ich ziemlich das Alphabet komplett machen.“
Zwei junge Adlige erfüllten Carolines Erwartungen in Bezug auf geistige und sittliche Ansprüche gleichermaßen. Carl La Roche, Sohn einer berühmten Schriftstellerin, für den sie mehr als Zuneigung und Freundschaft empfand. Er warb Caroline für den 1787 in Berlin gegründeten Tugendbund. [...] Durch ihn lernte sie Wilhelm von Humboldt kennen, der gleichfalls zum Tugendbund gehörte. Caroline ergriff die Initiative und lud als Bundesschwester Wilhelm nach Burgörner ein. Hier begegneten sie sich zum ersten Mal. Aus dieser Begegnung sollte eine Ehe werden. Sie wurde am 29. Juni 1791 in Erfurt geschlossen.
Auch die Schwestern Caroline von Lengefeld, verheiratete von Beulwitz, und Charlotte wurden Mitglieder des Tugendbundes und zugleich die besten Freundinnen Carolines. In einem regen Gedankenaustausch offenbarten sie einander ihre Empfindungen und vertrauten sich ihre Liebesgeheimnisse an. Als Charlotte von Lengefeld Schillers Ehefrau wurde, gehörte der Dichter bereits diesem engen Freundschaftsbund, der lebenslang währte, an.
In Jena wohnten die Eheleute von Humboldt in unmittelbarer Nähe zu Schiller, sahen sich oft täglich und nahmen Anteil am Entstehungsprozess seiner Dichtungen. „Schiller hat eine so herzliche und rührende Freude mich täglich zu sehen, dass ich nicht gern einen Tag aussetze, ohne ihn zu besuchen“, berichtete Caroline.
Auch Johann Wolfgang von Goethe nannte Caroline „vortreffliche Freundin“, schätzte ihr Kunstverständnis und bewunderte ihre eindrucksvollen Beschreibungen von Gemälden der großen Künstler Correggio, Raffaelund Tizian, die sie ihm aus Spanien sandte. Goethe ließ einen Teil dieser Beschreibungen in dem „Intelligenzblatt der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung“ veröffentlichen. Weitere Gäste ihres Hauses in Jena waren u. a. der junge Dichter Hölderlin und der preußische Politiker Friedrich von Hardenberg.
Aufgrund der chronischen Bronchitis Carolines beabsichtigten die jungen Eheleute, sich auf Reisen in den Süden zu begeben. Städte mit den wundervollsten Kunstschätzen wie Dresden, Wien und Paris luden zu Zwischenstationen ein, ehe sie in Madrid eintrafen. Wo immer Caroline von Humboldt lebte, ob in Paris, Wien Rom oder Berlin schnell wurden die schlichten Teegesellschaften in ihrem Haus zum Treffpunkt Gleichgesinnter und Kunstinteressierter, unabhängig von Stand und Stellung. Als hervorragende Moderatorin der Gespräche und durch ihre natürliche offene, ungezwungene Art fühlten sich die Gäste - oft mittellose Künstler - zu ihr hingezogen. Die Kunst, insbesondere die bildende Kunst, gehörte zu ihrem Leben, bedeutete ihr Beglückung und Inspiration.
Die Jahre, die Caroline wiederholt inmitten der antiken Kunstwelt Roms verbrachte, nennt sie selbst die glücklichsten. Sie stimmte der Meinung der beiden Dichter Goethe und Schiller zu, dass Künstler die Werke der Antike nicht kopieren, sondern auf ihrer Grundlage eigene künstlerisch anspruchsvolle Werke schaffen sollten. Diese Auffassung traf auch für die bildende Kunst zu. So förderte sie junge mittellose Künstlerauf unterschiedliche Weise. Sie versuchte ihnen durch ihre Verbindungen, reiche Kunstfördererzu vermitteln, die sich gleichfalls in ihrem Haus in Rom trafen, u. a. den späteren König von Bayern Ludwig I. oder den berühmten Landschaftsgestalter Fürst Pückler aus Muskau. Der wohl bekannteste Künstler war der später berühmte preußische Bildhauer Christian Daniel Rauch, der seine Karriere den Eheleuten Humboldt verdankte. Auchder dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen und der Maler Gottlieb Schick gehörten zu diesem Kreis. Letzterer schuf die beeindruckenden Porträts von Frau Caroline und ihren Kindern.
Mit ungeheurer Tatkraft bewältigte Caroline alle Probleme und Verpflichtungen, die sich aus ihrer Ehe mit Wilhelm ergaben, auch die als Diplomatengattin. So empfing sie nach zahlreichen Umzügen in die Großstädte Europas nicht nur bedeutende Künstler, sondern Gelehrte, Diplomaten und Vertreter der politischen adligen Oberschicht, wie Fürst Metternich oder König Friedrich Wilhelm III. Politisch aktiv war Frau Caroline im heutigen Sinne nicht, aber sie teilte die Ansichten ihres Ehemannes in Bezug auf die preußische Politik und respektierte seine Auffassung, seinem Vaterland dienen zu wollen. Genauso wie sie nach dem Sieg über Napoleon die liberale Position ihres Mannes gegenüber Preußen vertrat und seinen Rücktritt befürwortete.
Noch ein weiterer anstrengender Lebenskreis musste von ihr bewältigt werden. Acht Kinder hat sie geboren. Mit Liebe und Fürsorge widmete sie sich ihnen, stillte sie selbst zum Entsetzen der Wiener Damen am Hof und genoss dieses Glück der inneren Bindung. Oftmals war sie monatelang mit ihren Kindern allein, trug die Verantwortung für den gesamten Hausstand vom „Geldbezahlen“ bis zur Kinderpflege. Wie ihr Alltag als Mutter aussah, schildert sie aus Paris ihrem Freund.
„Die Kinder sind seit 8 Tagen unaufhörlich krank. Bei Adelheid ist es Zahnarbeit, aber die beiden Jungen haben Fieber, Erbrechen, Husten, und aller Appetit ist ihnen vergangen…Abends bin ich müde, ich kann‘s nicht beschreiben.“ Und ihre Aussage „Die Hoffnung auf gute und tüchtige Kinder, die die Zeit zu Menschen bilden wird, ist immer eine der süßesten“, hat keineswegs - wie Eltern wissen - an Aktualität eingebüßt. Dass diese Hoffnung sich nicht immer erfüllen ließ, musste sie schmerzvoll erfahren, denn drei Kinder entriss ihr der Tod.
Auf der Tafel Am Anger 37 steht das Jahr der Eheschließung 1791. Versuchen wir uns abschließend den Eheleuten Wilhelm und Caroline zu nähern und der Frage nachzugehen, wie haben die beiden „Prominenten“ zusammengelebt? Haben sich Caroline und Wilhelm trotz langer Trennungen, beidseitiger Affären und intimen Liebesbeziehungen die gegenseitige Liebe und Achtung bewahrt?
Für beide galten die Auffassungen, dass Liebe und Freiheit im Leben zusammengehören. Caroline wollte „in der Freiheit aller äußeren Verhältnisse“ leben, und Wilhelm bestätigte sie in diesem Wunsch: „Wenn Du also nicht recht frei wärst mit mir, und wenn Du entbehrtes, was Du gerne hättest, so störtest Du mein ganzes inneres und äußeres Leben.“ Sie gestatteten sich gegenseitig Freiheiten, die wohl heute gleichfalls ähnliche Reaktionen hervorrufen würden wie damals. Die adlige Gesellschaft spottete hinter ihrem Rücken, die Gerüchteküche kochte, und selbst ihre Freundin Charlotte Schiller fand, dass die beiden „das Schickliche oft mit Füßen getreten“ haben. Zwischen den Eheleuten aber gab es weder Eifersucht noch Missstimmung diesbezüglich. Selbst als der sechs Jahre jüngere von Burgsdorff bei Humboldts einzog, weil er sich nicht mehr von Caroline trennen konnte und sie ihm gleichfalls ihre Liebe gestand, akzeptierte Wilhelm das vierjährige Verhältnis seiner Frau zu ihm und später ihre tiefe Zuneigung zu ihrem und seinem Freund Graf Schlabrendorf. Doch auch Caroline billigte die intimen Beziehungen zu anderen Frauen. Der Briefwechsel der Eheleute offenbart ihre vorbehaltlose Zuneigung und Liebe. Daher blieb eine Ächtung Carolines durch die Gesellschaft, die als Frau wagte, sich wie ein Mann zu verhalten, aus.
Vermutlich waren neben großer Liebe zueinander Toleranz und Respekt Grundwerte ihrer Beziehung. Gewiss spielten gleichzeitig im Leben beider die Gedanken der Aufklärung, sich von den den Menschen einschränkenden Fesseln zu befreien und sich zu emanzipieren, eine Rolle. Wilhelm äußert sich dazu in einem Brief an seinen Freund: „Man hat ganz falsche Ideen von den Pflichten des Mannes und des Weibes gegeneinander: Liebe, Offenheit, Vertrauen, alles macht man zur Pflicht, zur Pflicht, die man fordern, erzwingen, allenfalls einklagen kann. Daher kommen dann von der einen Seite die ungestümen Forderungen und von der andern der Widerwille, das Geforderte zu tun. Denn, wenn man es aus Pflicht tut, so verliert es ja den Wert, …es ist nicht mehr sein Eigentum, das man aus Güte dem anderen gibt, es ist Eigentum des andern, das man ihn aus Gerechtigkeit nicht vorenthalten darf.“
Bis zum Tod Carolines am 26. März 1829 währte diese Ehe. Ihre letzten Ehejahre verbrachte sie auf Schloss Tegel bei Berlin, das Wilhelm ihr zuliebe nicht verkauft hatte. Nach ihren Vorstellungen gestaltete sie es u. a. mit den in Rom erworbenen antiken Marmorfragmenten und Gipsskulpturen. Frau Caroline genoss den Blick aus ihrem Fenster auf den See und die prachtvollen Bäume im Park. Gemeinsam beschäftigte sich das Ehepaar mit chinesischen, malaiischen und amerikanischen Sprachen und blieb im Geiste ein Leben lang verbunden. Besonders lebhaften Anteil nahm Caroline in dieser Lebensphase am Freiheitskampf der Polen und Griechen.
Anregende Abende gab es bei Humboldts in Berlin und Tegel auch weiterhin durch Alexander und die aus Rom zurückgekehrten Künstler. Trotz heftiger rheumatischer Schmerzen ließ sie es sich nicht nehmen, mit ihrer Tochter Gabriele und drei Enkelinnen zu deren Wohnsitz nach London zu reisen. Noch einmal begeisterte sie sich dort für die Skulpturen des Athener Parthenontempels, die sie in London bestaunte. Im Winter 1828/29 verstärkte sich ihr Leiden bedenklich. „Ihr Ende war sanft und still und schmerzlos“, teilt Wilhelm mit und bekennt: „Es ist mir ein beruhigendes Gefühl, dass ich den größten Teil der langen Zeit hindurch, in der wir verbunden durch das Leben schritten, fast ganz ihr und mit Rücksicht auf sie leben konnte.“
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Hermann Hettler: Karoline von Humboldt. Ein Lebensbild aus ihren Briefen gestaltet. Koehler & Amelang Verlagsgesellschaft mbH München Berlin 2001.
Beate Neubauer: Schönheit, Grazie und Geist. Die Frauen der Familie Humboldt. Edition ebersbach, 2010.
Anna von Sydow: hrsg. Wilhelm und Caroline in ihren Briefen. Königliche Hofbuchhandlung Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Bd.1– 7, Berlin 1906–1916.
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Dieser Beitrag ist in ähnlicher Ausführung bereits in "Stadt und Geschichte, Zeitschrift für Erfurt. Nr.64, 3/16, S.27-29 erschienen.