Erfurt-Lese

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Matt Lamb Kirche Bergern

Klaus von der Weiden, Susanne Wellhöfer

Es klingt fast wie ein Märchen, da kommt ein großer amerikanischer Künstler in ein kleines thüringisches Dorf und gestaltet dort die bisher unbedeutende Dorfkirche mit seinen Werken aus. Und doch ist es so geschehen in Bergern unweit der Kleinstadt Bad Berka. Die kleine Broschüre erzählt von der Kirche, dem Künstler und dem Werk, und wie es zu dieser unglaublichen Begenheit kam.

Thomas von Erfurt

Thomas von Erfurt

Friederike Günther

Abbildung der mittelalterlichen Universität in Paris
Abbildung der mittelalterlichen Universität in Paris

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."

Mit diesem Satz schloss sich Ludwig Wittgenstein der Ansicht an, dass die Wirklichkeit nur so wahrgenommen werden könne, wie die eigene Sprache sie beschreibe und es keine allgemeine, sprachunabhängige Realität gebe. Damit äußerte er sich zugleich zu einer Diskussion, die bereits im Mittelalter geführt wurde: Beeinflusst die Sprache unser Denken und damit, wie wir die Wirklichkeit sehen? Oder sprechen wir so, wie die Wirklichkeit es uns vorgibt? Während Wittgenstein sich in den Maßgaben seiner eigenen Sprache gefangen fühlte, vertrat im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts ein Gelehrter in der Stadt Erfurt die entgegengesetzte Ansicht.

Über das Leben des Thomas von Erfurt ist wenig bekannt. Vermutlich studierte er an der Universität Paris und legte dort um 1300 sein Magisterexamen ab. In den nächsten Jahren kam er nach Erfurt, das sich mit seinem Bildungsangebot am Pariser Vorbild orientierte und sich deshalb bemühte, Lehrende von dort anzuziehen. Ende des 14. Jahrhunderts mündete dieses Exzellenzstreben der Erfurter Schulen in der Gründung der Erfurter Universität

Die Schottenkirche erinnert noch an das ehemalige Kloster.
Die Schottenkirche erinnert noch an das ehemalige Kloster.
Thomas von Erfurt war als Rektor und Magister Regens (leitender Lehrer) an der Schule St. Severus und dem Schottenkloster tätig. Der Gelehrte verbrachte den Rest seines Lebens in der heutigen Thüringer Landeshauptstadt. Bis 1310 verfasste er hier sein bekanntestes Werk, die Modi significandi, ein Grammatiklehrbuch für seine Schüler.

Mit dem Wort „Grammatiklehrbuch" verbinden Schüler heutzutage vermutlich endlose Deklinationstabellen und unregelmäßige Verben aus dem Lateinunterricht. Auch Thomas von Erfurt nutze für seine Grammatik die Sprache der alten Römer. Allerdings verfasste er sein Werk nicht, um seinen Lesern die Regeln der Konjugation von Verben oder Ähnliches nahezubringen. Er ging der Frage nach der Grundlage dieser Regeln nach: Gibt es eine logische Begründung grammatischer Regeln?

Mit dieser Frage stand der Autor nicht allein da. Er ist vielmehr einer von vielen Modisten des späten Mittelalters, die die Grammatik nicht mehr deskriptiv, sondern philosophisch betrachten. Sie nutzen den Begriff der „grammatica speculativa", der Grammatik als Spiegel der Wirklichkeit. Wie zuvor bereits angerissen, gehen sie davon aus, dass eine Wirklichkeit vorliege, die durch die Sprache lediglich abgebildet, nicht von dieser bestimmt werde. Dinge in dieser Wirklichkeit hätten einen bestimmten modus essendi, eine Seinsweise. Diese Seinsweise werde vom menschlichen Verstand erfasst und dann in eine Bezeichnungsweise, den modus significandi, umgewandelt. Thomas von Erfurt griff zu folgender Erklärung, um seinen Schülern diese Theorie verständlich zu machen:


„In ein und derselben Sache lassen sich verschiedene, einander nicht widerstreitende Eigenschaften der Sache finden, von denen verschiedene aktive Bezeichnungsweisen genommen werden können; allerdings wird ihr dann nicht ein Ausdruck verliehen mit Bezug auf alle diese Eigenschaften, sondern einmal wird ein Ausdruck zugewiesen mit Bezug auf eine Eigenschaft, ein andermal ein anderer Ausdruck mit Bezug auf eine andere Eigenschaft.

Z. B. die Sache ‘Weiße' [die Farbe weiß] hat verschiedene Eigenschaften, mit Bezug auf welche ihr verschiedene Ausdrücke zugewiesen werden können. Denn wenn in ihr die Weise des Seienden und zudem die Weise eines bestimmten Wesens betrachtet wird, so wird sie durch den Ausdruck eines substantivischen Nomens bezeichnet, wie albedo ["Weiße"]. Wenn in ihr jedoch die Weise des Seienden und zudem die Weise der Inhärenz in einer anderen Sache gemäß deren Wesen betrachtet wird, so wird sie im Ausdruck eines adjektivischen Nomens bezeichnet, wie albus ["weiß"]. Ebenso wenn in ihr die Weise des Seins betrachtet wird, was die Weise des Flusses und der Abfolge ist, und zudem die Weise eines distinkten Wesens, so wird sie verbal bezeichnet, wie dealbo ["bin weiß"]."

(Zitiert nach: Christian Lehmann: Thomas von Erfurt (13./14. Jahrhundert) In: Pfordten, Dietmar von der (ed.): Große Denker Erfurts und der Erfurter Universität. Göttingen: Wallstein 2002; S. 45–73; S. 8f)

Portal des Collegium Maius in der Michaelisstraße
Portal des Collegium Maius in der Michaelisstraße

Ein modus siginificandi, die Weise des Bezeichnens, „ist ziemlich genau das, was man heute die Bedeutung einer grammatischen Kategorie oder die Funktion einer grammatischen Operation nennen würde. Z. B. ist die Bedeutung der Wortart Substantiv oder der morphologischen Kategorie Numerus ein modus significandi" (Lehmann S. 8) Bleibt man beim Beispiel Thomas‘, bedeutet das, dass die Farbe Weiß, wenn sie als tatsächlicher Gegenstand und eigenständiges Ding auftritt, den modus significandi Substantiv bekommt. Fungiert sie eher als ein Zusatz zu einem anderen Gegenstand, z. B. einem weißen Auto, führt diese Eigenschaft dazu, dass sie die Bezeichnungsweise Adjektiv annimmt.

Die Theorie von Thomas von Erfurt anhand deutscher Beispiele zu erläutern, ist vor allem deswegen möglich, weil der Modist davon ausging, dass allen Sprachen eine universale Grammatik zugrunde läge, eben die, die die Wirklichkeit vorgebe. Gemäß der wissenschaftlichen Tradition des Mittelalters verfasste Thomas seinen Text jedoch auf Latein und nutzte diese Sprache als Folie, anhand derer er die Prinzipien der Grammatik beschrieb.

Jahrhundertelang blieb die Autorschaft des Erfurter Gelehrten unerkannt und sein Text Modi significandi wurde dem Philosophen Duns Scotus zugeschrieben. Noch Martin Heidegger unterlief dieser Irrtum in seiner Habilitationsschrift. Heute weiß man, dass man diese vollständige Wiedergabe modistischer grammatischer Theorie einem Erfurter zu verdanken hat, dessen Fragen noch immer aktuell sind. Wie sehr bestimmt die Wirklichkeit unser Denken? Wie sehr spiegelt unsere Sprache unser Denken wider?

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Abbildungen: gemeinfrei
Foto Schottenkirche: Kolossos (Wikipedia CC BY-SA 3.0)
Foto Collegium Maius: Tina Romstedt

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